Krieg und Erbarmen

Otto Dix · Georges Rouault

In der Ausstellung »Krieg und Erbarmen« werden zwei Radierfolgen gegenübergestellt, die um das Thema Krieg kreisen: Otto Dix’ fünfzig Blatt umfassende Folge »Der Krieg« (1923/24) und Georges Rouaults 58-teilige Mappe »Miserere« (1927/1948). Obwohl das Entstehen beider Zyklen durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde, sind beide Radierwerke jedoch sehr viel mehr als bloße Zeitdokumente, nämlich zeitlose Manifeste gegen den Krieg, die auf ganz unterschiedliche Weise durch ihre Aussage und ihre künstlerische Qualität beeindrucken. Denn mit diesen beiden Folgen prallen zwei Persönlichkeiten und Welten aufeinander, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: Da der »Wirklichkeitsmensch« und Verist Otto Dix (1891–1969) – dort der Katholik und Expressionist Georges Rouault (1871–1958). Radikal der eine und kompromisslos der andere, wenn es gilt, die eigene Weltanschauung zu artikulieren und sich künstlerisch das Äußerste abzuringen. Jahrelang haben beide an diesen ihren Werkgruppen gearbeitet und haben – Blatt für Blatt – die Möglichkeiten der Radierung ausgetestet, bis sie zu Lösungen fanden, die ihren hohen künstlerischen Ansprüchen genügten. Umfangreiche Vorarbeiten in Zeichnung und Aquarell bereiteten die drucktechnische Umsetzung vor.

Lothar-Günther Buchheim konnte die beiden Radierfolgen, die zentrale Werke im Schaffen von Dix und Rouault vorstellen, in der Nachkriegszeit erwerben. Heute gehören sie nicht nur zu den Glanzpunkten der Sammlung Buchheim. Sie belegen darüber hinaus, wie sehr sich die eigene Lebenserfahrung und die Persönlichkeit Buchheims in seinen Sammlungen widerspiegeln. Das im Zweiten Weltkrieg Erlebte bedrängte Buchheim bekanntlich ein Leben lang. Vor Ort fühlte er sich als Fotograf und Maler aufgerufen, Zeugnis abzulegen über die Kriegszeit. Erst viele Jahrzehnte später entstanden seine Romane.

Doch wie erfuhren beide Maler den Krieg? Der Deutsche Otto Dix und der Franzose Georges Rouault, die sich, wären beide Soldaten gewesen, auf den Kriegsschauplätzen entlang der Westfront als Feinde gegenübergestanden hätten? Aber nur Otto Dix ist es, der die Wirklichkeit und die Schrecken des Krieges vor Ort erlebt. Er ist Soldat und MG-Truppenführer, ist aktiv in das Kampfgeschehen verwickelt, und von August 1915 bis Kriegsende an verschiedenen Kriegsschauplätzen im Westen und Osten eingesetzt.

Rouault, zwanzig Jahre älter als Dix, lebt und arbeitet derweil fernab der Front in Paris. Was ihm tagtäglich begegnet, sind die Folgen und der Widerhall des Krieges in der Heimat: Abertausende von Toten oder Verwundeten sind zu beklagen. Viele Familien sind betroffen. Da sind Trauer und Wut. Da sind die Ängste der Soldaten, der Mütter, der Ehefrauen und Geliebten, der Kinder. Da ist Angst vor dem Tod. Angst vor materieller Not und sozialem Abstieg. Und dann ist da das Elend in den Vierteln der Armen, das unübersehbar zunimmt. Die Gesellschaft, die Menschen – alles verändert sich. Überall ist Betroffenheit, Bedrückung, Depression und Leid.

Doch sind nicht nur Nähe und Distanz Auslöser einer unterschiedlichen Wahrnehmung des Krieges bei Dix und Rouault. Ihre unterschiedlichen Temperamente und Weltanschauungen prägen ihre künstlerische Intention und ihre Reaktion auf den Krieg nachhaltig: Rouault wird entschieden von den Vorstellungen des »Renouveau catholique«, einer katholischen Erneuerungsbewegung, bestimmt. Dix hingegen ist Anhänger der Lehre Friedrich Nietzsches und glaubt an der Front, Zeuge eines epochalen Umbruchs zu sein. In den Gräben zeichnet er wie ein Besessener. Doch die Radierungen des Zyklus »Der Krieg«, die ja viele Jahre nach Kriegsende entstehen, sind auch als Akt zu begreifen, die in den Träumen wiederkehrenden Bilder des Schreckens »loszuwerden«.

Zu seinem Monographen Fritz Löffler meinte Dix zu diesem seinem Radierwerk: »Es gilt die Dinge so zu sehen wie sie sind. Das ist die Voraussetzung für eine wahre Realistik. Entrüstung kann man nicht malen (…). Ich war bestrebt, den Krieg sachlich darzustellen, ohne Mitleid erregen zu wollen, ohne alles Propagandistische. Ich habe vermieden Kämpfe darzustellen. Ich wollte keine ekstatischen Übertreibungen. Ich habe Zustände dargestellt, Zustände, die der Krieg hervorgerufen hat, und die Folgen des Krieges – als Zustände.«

Der Otto Dix der Zwanziger Jahre will die Wirklichkeit des Krieges eindringlich schildern, um vor den Folgen zu warnen. Rouault will etwas ganz anderes: Er will nicht die Schrecken des Krieges darstellen und hat auch nicht die Absicht, die Dinge so zu zeigen wie sie sind. Rouault versteht sich vielmehr als Künder der christlichen Heilslehre. Er, der selbst an der Zeit leidet, will mit seinen Bildern Trost spenden und Hoffnung geben, indem er auf eine andere Dimension, auf das Überwirkliche und Geistige, auf Gott und ein Leben nach dem Tod verweist. Er will einen spirituellen Weg aufzeigen. Gott, so Rouaults Botschaft, hat Erbarmen und Mitleid mit den Menschen.

Sein Sohn Jesus Christus ist Mensch geworden. Er hat gelitten und er ist gestorben: »Durch seine Wunden sind wir geheilt.« (Jesaias, 53,5). Und die Identifikation des Schmerzensmanns mit den Leidenden ruft zu praktizierender Nächstenliebe auf. – Der Krieg und sein Mitleid, seine Empathie mit den Leidenden sind für Rouault Auslöser, um mit der Mappe »Miserere« Zeugnis abzulegen von Gott und seinem Erbarmen für die Menschen. »Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.« (Johannes, 2)

Otto Dix hingegen legt Zeugnis ab von dem, was er im Ersten Weltkrieg erlebt hat. Seine Radierfolge lässt schlaglichtartig Szenen und Eindrücke aufleuchten: Tote, Leichen, Verweste, Verstümmelte, Sterbende, Verwundete, Irrsinnige, zerstörte Natur, zerbombte Häuser, Ruinen … – ein Panorama der Zerstörung tut sich auf. Lapidar heißt es in den Bildunterschriften: »Gesehen am Steilhang von Cléry-sur-Somme«, »Gefunden beim Grabendurchstich«. Das ist der Beleg: Ich habe das gesehen, so war es. Es sind keine Bilder, die meiner Phantasie entsprungen sind.

Rouault jedoch vergegenwärtigt keine erlebten, sondern imaginierte, vorgestellte Bilder, Visionen: Darstellungen von Christus als Schmerzensmann, vom Sterbenden am Kreuz, von leidenden Menschen, von öden Vorstädten, tristen Landschaften … Aber es gibt auch Typisierungen – wie etwa den überheblichen deutschen Soldaten mit Kaiser-Wilhelm-Bart und Pickelhaube – die ans Karikaturenhafte grenzen. Die bildbegleitenden Texte sind vorwiegend Bibelzitate, einige stammen aber auch aus der Literatur oder von Rouault selbst.

Mancher, der die Radierungen aus Dix’ Kriegsmappe betrachtet, wird auch heute noch schockiert sein von der Unmittelbarkeit und Drastik der Dix’schen Bildsprache. Und das ist auch gut so. Denn gerade durch die ätzende Schärfe der Blätter, die den Betrachter hineinziehen in eine Welt des Grauens, der ungeahnten Schrecken und der immer währenden Todesangst, brennen sich die Bilder dieses zunächst völlig unterschätzten Krieges, der sich rasch zu einer menschenvernichtenden Materialschlacht unvorstellbaren Ausmaßes ausdehnte, ins Gedächtnis ein. Freilich kann der Tod von Abermillionen von Menschen in den Blättern nicht veranschaulicht werden, wohl aber das Schicksal von Individuen.

Rouaults Bilder sind alles andere als aufwühlend oder abstoßend. Aber sie wirken in ihrer Düsterheit und hieratischen Strenge sehr ernst und vermitteln durch diese Anmutung etwas von der Schwere und der Bedrückung der Zeit. Auch liest sich die Abfolge der Bilder zusammen mit den Bildtexten wie ein Gebet, ja wie eine Litanei oder ein Rosenkranz, wiewohl dem ganzen Zyklus etwas Erhabenes, Feierliches und Erbauliches eignet. Dazu trägt das magische Leuchten der Radierungen bei, aber auch die Idealisierung und Typisierung der Figuren und Köpfe, die groß ins Bild gesetzt sind. Klarheit und Ruhe bestimmen die Kompositionen, und die dunkle, schwarze Konturlinie, die die Bildgegenstände umfließt, kündet von einer geistigen Welt, die in sich stimmig ist. Der Betrachter jedoch findet nicht gleich den Zugang zu diesem sehr persönlichen Glaubensbekenntnis, weil individuelle Symbolik und tradierte Darstellungsformen ineinander greifen, aber auch das Sakrale mit dem Profanen verschränkt sein kann.

Dix’ Radierungen hingegen sind alles andere als hermetisch. Sie sind wie Begegnungen mit dem Schrecken. Bald springen die Bilder den Betrachter frontal an, dann wieder wird man zu einem Suchenden, dessen Auge sich im Gewirr des Schützengrabens verfängt und grausame Funde macht. Nicht unähnlich den Soldaten, die auf den Kampfschauplätzen immer und überall auf Tote und verwesende Leichen stießen. – Zentrales Thema beider Zyklen ist der Tod. Doch bei Rouault, dem gläubigen Christen, ist der Tod nur das Ende des irdischen Seins. Bei Dix, und wohl deshalb wirken einige seiner Totenköpfe und Skelette seltsam lebendig, markiert der Tod einen Übergang in einen anderen Zustand, ganz im Sinne von Friedrich Nietzsches »Ewiger Wiederkehr des Gleichen«. Als Nietzscheaner dürfte sich Dix’ Verhältnis zum Christentum in ähnlichen Bahnen bewegt haben wie das des Philosophen, der Gott für tot erklärte und in seinen »Dionysos-Dithyramben« (1891) meint:

»Dionysos gegen den ›Gekreuzigten‹: Da habt ihr den Gegensatz … Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen – der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.«

Dr. Clelia Segieth
Kuratorin des Buchheim Museums
Museumsleitung


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