ICH SEH ETWAS WAS DU NICHT SIEHST

Artur Elmer im Buchheim Museum

Ausstellung 29. Mai bis 21. September 2014

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Selbstbildnis, 1971/2014 © Artur Elmer

Es ist ein altes Kinderspiel, das wir alle kennen. Einer sucht sich einen Gegenstand aus, verrät aber nur seine Farbe. Wer richtig rät, darf als nächster rufen: „Ich seh’ etwas, was du nicht siehst, und das ist …“ – blau, zum Beispiel; wie die Augen, die uns vom Titelbild dieses Flyers entgegenschauen. Sie gehören dem gerade einmal 32 Jahre jungen Artur Elmer. Der Künstler aus Aalen, der in Stuttgart nach Malerei und Kunstgeschichte auch Philosophie, Politologie und Geschichte studiert hatte, wurde 1971 dazu eingeladen, an einer Gruppenausstellung zum Thema Selbstporträt teilzunehmen. Erwartet wurde ein Gemälde, und das bekamen die Veranstalter dann auch. Allerdings nicht auf Leinwand. Vielmehr war es der eigene nackte Leib, den der Künstler in einem Kolorit bemalte, das einem Porträt von Alexej von Jawlensky entstiegen sein könnte. Das Werk ist als Super-8-Film fragmentarisch erhalten geblieben und ist ebenso Teil der Ausstellung im Buchheim Museum wie die digitalen Bilder des Künstlers, die gut vierzig Jahre später entstanden.

1983 gründete Elmer den Aalener Kunstverein, deren Vorsitzender er bis heute ist. Mehrfach hat er hier Werke oder Teile der Sammlung von Lothar-Günther Buchheim ausgestellt. Buchheim schätzte seinerseits die energetische Lebensführung Elmers, die der seinen so sehr glich. Beide waren Ringer, Sammler, Autoren, Künstler, Kuratoren, … Der bekannte Freiburger Mäzen Franz Armin Morat hat die Vielfalt Elmers einmal als „schwindelerregend“ bezeichnet. Er sei ein „Uomo Universale“ der Kunst. Auch sein künstlerisches Werk deckt ein überaus breites Spektrum ab. Im malerischen Oeuvre ist seine Herkunft von Expressionismus und Informel spürbar. Seine Druckgrafik und seine Bühnenbilder zeigen dieselben Einflüsse. Immer wieder bestechen seine Zeichnungen und Gemälde jedoch auch durch einen klassischen Realismus.

Trotz seiner allseits bekannten Lust an Offenheit und Entwicklung war es letztlich eine Überraschung, dass der 67-jährige Elmer noch einmal die Grenzen des Üblichen sprengte. Er verabschiedete sich von der Malerei in „Essig und Öl“, wie er zu sagen pflegt. Er ersetzte den Pinsel durch den Computer. Kein anderer hat bislang die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung so konsequent für die klassische Gattung der Malerei eingesetzt wie er. Malen mit dem Computer – wie er das mache, das wollen natürlich viele von ihm wissen. Er drücke ein paar Knöpfe und klicke ein paar Mal mit der Maus, antwortet Elmer dann freundlich, aber es gehöre natürlich schon ein bisschen mehr dazu: 50 Jahre malerische Erfahrung zum Beispiel. So ganz lässt er sich nicht in den Bildschirm blicken. Klar ist allerdings, dass er intime Kenntnis verschiedener Programme benötigt, um seine Kompositionen zustande zu bringen: Word, Paint, Photoshop und CorelDraw gehören zu der Klaviatur, die Elmer bedient. Erst ganz am Ende des Produktionsprozesses materialisieren sich die Gemälde als Giclées – großformatige Ausdrucke aus dem Tintenstrahldrucker.

Die avantgardistische Triebfeder für Elmer ist, wie für so viele Künstler, Marcel Duchamp. Dessen Diktum, dass der „Ölkult der Malerei“ mit seinem „akademischen Joch“ die Ausdrucksfreiheit nur behindere, hat Elmer 2008 einen ganzen Zyklus von digitalen Bildern gewidmet. In dem reich nuancierten Spiel an Grautönen taucht immer wieder Duchamps Junggesellenmaschine auf – eine sich zwischen zwei großen Glasplatten entfaltende Installation, in deren oberen Hälfte eine Frau schwebt, die für die Junggesellen in der unteren Hälfte unerreichbar bleibt. Nur das illusionsgenährte Begehren der Männer ist real: Duchamp stellt es als Kraft dar, die eine Schokoreibe antreibt.

In einer Reihe digitaler Gemälde von 2009 enthält sich Elmer demonstrativ jeglicher Bezugnahmen auf andere Kunstwerke oder Gegenstände. Wir sehen ein reines Spiel computergenerierter Farben, Formen, Helligkeitswerte und Raumillusionen. In den Bildräumen bieten sich ätherische Spektakel dar. Spektralfarbene Lichtreflexe scheinen in entmaterialisiertem Glas auf. Davor schweben bisweilen freie Formen, die entfernt an verschlungene Schnüre, aufgerollte Bänder, gefaltete Tücher oder zylindrische Körper erinnern.

2014 verfolgt Elmer eine gegenläufige künstlerische Strategie. Das Ausgangsmaterial sind nun Bilder mit dokumentarischen Inhalten: Nachrichtenbilder, die der Künstler vom heimischen Fernseher abgeknipst und in seine Malmaschine eingespeist hat. Bilder von der Trauerfeier von Nelson Mandela glühen an einem Bildrand auf wie das irisierende Wärmebild einer Infrarotkamera; oder sie werden zerfetzt und neu zusammengesetzt wie Papiers déchirés von Hans Arp; oder sie werden Bestandteil einer aus imaginärer Pappe gefalteten Skulptur; oder, und damit ist vielleicht der Höhepunkt von Elmers lustvoller Dekonstruktion erreicht: Die Gesichter der Trauergäste lösen sich auf in den Wellen des Pixelmeers, das er auf seinem Computerbildschirm tosen lässt. Nur der graue Rahmen des Menüs von dem Bildbearbeitungsprogramm bleibt stechend scharf.

Vielleicht sind die Bedingungen der Bilderzeugung das einzige, worüber sich klar urteilen lässt. Der Bildinhalt selbst nährt sich von Empfindungen, Erzählungen, Illusionen und Konstruktionen. Die Kunst wird nie die Wahrheit ergründen – sie erschafft sie vielmehr! Ebenso wie die Wissenschaft, die Sprache, die Religion und andere epistemische Systeme. Der amerikanische Konstruktivist Nelson Goodman hat die Grundhaltung präzise formuliert, die Elmers Kunst prägt: „Wir sprechen nicht von vielen möglichen Alternativen zu einer einzigen wirklichen Welt, sondern von einer Vielheit wirklicher Welten.“ Elmer lässt sein eigenes Selbstbildnis von 1971 auf einem digitalen Gemälde in pixeliger Farbvielfalt aufgehen. „Ich seh’ etwas, was du nicht siehst, und das ist …“ – so einfach können wir das nicht sagen.


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