Arche Noah der Kunst

Berliner Morgenpost vom 17.05.2001

Die Wiener Würstchen mit Semmel kosten 3,80 Mark und sind ihr Geld wert. Auch die Toilettentüren am Bahnhof Tutzing öffnen sich noch für bescheidene 20 Pfennig, und das, was dahinter liegt, belegt den Sinn der Bayern für Reinlichkeit. Überhaupt ist die Welt hier am Starnberger See, wo der Freistaat wohl am schönsten ist, noch in Ordnung.

Ein Dorf weiter liegt Bernried, noch so eine Idylle an den Gestaden des Sees. Am nächsten Mittwoch wird sie eine Masseninvasion unter der Leitung des Ministerpräsidenten Edmund Stoiber erleben. Dann nämlich, am 23. Mai, eröffnet hier Lothar-Günther Buchheims Museum der Phantasie. So richtig vorstellen kann man es sich noch nicht. Eine Woche zuvor verbreitet das Areal charakteristischen Baustellen-Charme: lose Kabel, Staub, Handwerker und draußen viele kahle Flächen. Endgültig aber ist immerhin der Bau: Das von Günter Behnisch entworfene Museum sieht aus wie ein Schiff, Bug zum See, wie es sich gehört.

Und auch wenn Behnisch und Buchheim seit Monaten zerstritten sind, ist die maritime Architektur sicher der Geschichte des Mannes geschuldet, dessen Sammlung hier ihr Domizil findet: Lothar-Günther Buchheim hat, wie seit dem Roman "Das Boot" wohl jeder weiß, eine gewisse Nähe zur Seefahrt. Das heißt jedoch nicht, dass er an dem 38-Millionen-Mark-Bau alles prima findet, etwa die Treppengeländer, die an Relings erinnern. "Das sieht doch furchtbar aus. Haben Sie so was auf einem Schiff vielleicht schon mal gesehen? Und von Schiffen versteh' ich was", wettert der 83-Jährige und rüttelt am Geländer.

Ortstermin ist angesagt. Waldemar, Buchheims treuer Assistent, hat den Sammler, Künstler, Schriftsteller aus dem 12 Kilometer entfernten Feldafing herüberchauffiert. Volkstümlich im Golf. Schicke, teure Autos sind nicht Buchheims Sache, und ansonsten "fahren wir die Wagen, bis sie zusammenbrechen", sagt seine Frau Diethild (Ditti). Das gilt auch für den BMW, der vor dem Museum steht und nicht mehr ganz der alte ist. Der Künstler und KFZ-Meister Siegfried Ulmer hat Buchheims ehemaliges Gefährt mit einer Riesenkrake auf dem Dach und allerlei maritimem Schnickschnack an den Seiten versehen.

Der Rostton verstärkt den Eindruck der Arte Povera. Ein Schicksal, das der Golf noch vor sich hat, dem Buchheim entsteigt, um in einem Rollstuhl Platz zu nehmen. Eine Rückenoperation vom vergangenen Jahr setzt ihm zu, nicht gelitten hat freilich seine mentale Widerstandskraft. Die Frage, was er jetzt empfinde - Genugtuung, Stolz, Zufriedenheit? - , gefällt ihm gar nicht: "Immer wollt Ihr wissen, wie ich mich fühle. Das sag' ich Euch nicht." Dabei wäre weder gegen Zufriedenheit noch gegen Stolz oder gar Genugtuung etwas einzuwenden.

25 Jahre lang hat Buchheim für ein eigenes Museum verhandelt und gekämpft; München, Duisburg, Berlin, Weimar, Chemnitz, Feldafing waren im Gespräch, bis dank des Einsatzes von Edmund Stoiber und Walter Eberl, dem Bürgermeister von Bernried, die Entscheidung fiel. Das war 1997 - kurz nachdem die Bürger von Feldafing, wo Buchheim seit Kriegsende lebt, per Bürgerentscheid das Museum abgelehnt hatten. Überflüssig zu erwähnen, dass das Verhältnis zwischen Buchheim und seinen Mitbürgern bis heute nicht sehr herzlich ist. "Es ist ja bekannt, dass da Menschen leben, die ich mit diversen Schimpfnamen zu belegen pflege", startet Buchheim vorsichtig, legt dann aber doch nach: "Da haben wir erleben können, wie drei, vier Gullyratten die Bevölkerung verrückt machen."

Ein neues Gebäude allerdings hätte die Sammlung in Feldafing nicht bekommen, und so mag man ja vielleicht auch etwas Gutes sehen im Eigensinn der Feldafinger. "Das ist doch ein absoluter architektonischer Missgriff", ereifert sich Buchheim, als wir auf der Empore angekommen sind, die den Blick freigibt auf einen der beiden großen Expressionisten-Räume. Schmidt-Rottluff, Heckel, Müller, Pechstein, Kirchner, Nolde - die ganze Brücke hängt hier, außerdem Kokoschka, Dix, Grosz, Beckmann, Corinth. Buchheim blickt nach unten: "Der Kirchner hängt ja immer noch falsch. Ganze Ausstellungen habe ich schon in der Nacht vor der Eröffnung umgehängt", grummelt er und wird seinem Ruf als veritables Raubein gerecht.

Was er in jedem Fall auch ist, ist ein veritabler Sammler. Wer es bislang noch nicht wusste, dem wird spätestens hier klar: Der Mann ist besessen, ein Leben reicht eigentlich nicht aus für das, was er gemacht und gesammelt hat. Masken, Figuren, Kalebassen aus Afrika, Marionettentheater und Stoffmalerei aus Asien, Briefbeschwerer ohne Zahl, Flaschen in allen erdenklichen Formen, Sammeltassen und Teekannen, Pop-Plakate, Flipper-Automaten, Skulpturen und die Welt des Zirkus ergänzen die Sammlung der bildenden Kunst. Und das nicht nur, weil die Exponate aus Afrika eine innere Verbindung zum Expressionismus haben, sondern weil für Buchheim nahezu alles Kunst ist, Volkskunst, die auch Zeugnis ablegt für den Zeitgeist.

Hier geht es nicht darum, Kultur zu "lernen", hier geht es um das Prinzip des Staunens, das sich an allem entzünden kann. Das Museum der Phantasie ist ganz sicher keine Anlaufstelle für den beflissenen Bildungsbürger, eher eine Art Arche Noah der Kunst. Und auch im Urteil des Erfinders denn doch nicht so schlecht. Im Grunde "ist es fast schon so, wie ich es mir vorgestellt habe", sagt Buchheim: "Jetzt muss das Museum nur noch von alleine laufen lernen." Wie ein Vater, der seine Kinder ins Leben entlässt.


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