Malerei stellt die Welt wieder her

Münchner Merkur vom 03.04.2004

Marc Chagalls Welt ist die Idylle der glücklich schwebenden Pärchen, der behütenden Engel, der Blumen und Bauern. Sie ist aber noch mehr: Fernab von diesem Klischee gibt es hintergründige Literatur- und Bibelillustrationen, die auf malerischen Überlegungen aufbauen. Chagall wollte nie nur magische Märchen erzählen. Er lebte in der Wirklichkeit seiner Seelenbilder. Fabelwesen und Farbenmeere mit ihren verdrehten Bezügen waren für ihn selbstverständlich, selbstredende und oft verkannte Bildwelten.

Auch dem Sammler Lothar-Günther Buchheim war Chagall (1887.1985) anfangs "zu märchenhaft, zu poetisch, zu wenig konstruktiv", bis ihn der stürmische junge Mann mit seiner Intensität beeindruckte. Mit 160 Arbeiten zeigt das Buchheim Museum Bernried nun eine Auswahl aus den Beständen. Sie ist ein Überblick über das grafische Werk, für das sich Buchheim seit den Nachkriegsjahren eingesetzt hat. In dieser Zeit haftete Chagall noch das Brandmal des "Entarteten", von der NS-Diktatur Verfemten an. Unvorstellbar, wenn man die großformatigen Sträuße und friedlichen Stimmungen sieht. Allerdings: Hier werden Erdenschwere und physikalische Gesetze außer Kraft gesetzt. Die Grafiken bringen den großen Saal in einen federleichten Schwebezustand. Es eröffnet sich eine raum- und zeitlose Sphäre, die dem Wanderer zwischen den Welten, zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und den USA entspricht.

1887 bei Witebsk in Weißrussland geboren, ließ Chagall die Kindheit im jüdischen Viertel nie ganz los. Das zeigt der Radierzyklus zur Autobiografie "Mein Leben", 1922/23 im Auftrag des Verlegers Paul Cassirer geschaffen. Damit wollte Chagall an frühere Erfolge in der Sturm-Galerie anknüpfen. An Bauernhäusern fliegen Karren vorbei, die Familie wird zur Sozialstudie der Arbeiterschicht mit kubistischer Kantigkeit.

1923 ging Chagall nach Paris und traf seinen Groß-Auftraggeber Ambroise Vollard. In den nächsten vier Jahren entstehen die Illustrationen zu Nikolai Gogols Roman "Die toten Seelen". Die Geschichten um den Helden, der die Seelen von verstorbenen Leibeigenen für Steuerbetrügereien aufkauft, passt in Chagalls surreales Weltbild. Im Blatt "Gogol und Chagall" werden die beiden Künstler von Engeln, Bauern und Zwiebeltürmen umrahmt. Was wie Dorfidyll wirkt, wird in anderen Blättern eine gemeine Charakterstudie.

Chagall wird zunehmend malerischer, weicher, flächiger. Der Zyklus zu La Fontaines Fabeln (1927-30) zeugt wiederum von einer Fokussierung menschlicher Unzulänglichkeiten. Diese Konzentration von Leben und Literatur in Frankreich ist absolut sehens- und lesenswert. Die Bebilderung der Bibel schließlich (1931-39 und 1952-56) bündelt Frohbotschaft und menschliche Verderbtheit in einem dramatischen Hell-Dunkel, das der malerischen Flächenwirkung wie der Akkuratesse der Linie den gleichen Rang einräumt. Hier sieht man einerseits die Tradition der Ecole de Paris mit den Vorgaben einer harmonischen Komposition, andererseits die Einwirkung der farborientierten Avantgarde. Auch wenn er es leugnete: Kubisten, Fauvisten, die transzendenten Farbexperimente des Freundes Delaunay beeinflussten Chagall.

Bestens zu sehen ist das in den großen Farblithografien der 50-er und 60-er Jahre. Sie lockern nicht nur die Zyklen auf, sondern zeigen, wie sehr der Künstler mit akzentuierten Farben das Bild aufbaute. Ob es die "Bucht der Engel" (1962) ist, ob es die Liebenden über den Dächern von Paris oder ihre zarten Blütenträume sind: Lyrische Linien und gezieltes Kolorit treffen sich zu Fragmenten der Tagträume. Aus zerstörerischen Bezügen sollte Eigenes entstehen. "Die Malerei stellt die Welt wieder her", glaubte Chagall. "Mein Wiederaufbau ist psychischer Art." Vorausgreifend auf die Surrealisten verstand er sich als "ein Maler, der bewusst unbewusst ist".


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