Die Farbe von Paris ein diffuses Grau

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.10.2004

Wie Statuen stehen die Angler am Seine-Quai. Ihre Silhouetten heben sich vom Glitzern des Wassers ab. Zwischen kahlen Bäumen haben die Bouquinisten ihre Kästen aufgeklappt. Straßenmaler visieren über den ausgestreckten Pinsel ihre Staffelei an, umringt von Passanten. Die Schönen der Nacht, deren geschlitzte Röcke züchtig bis zum Knie reichen, lehnen auf hohen Hacken an den Mauern. Kinder lassen Schiffchen schwimmen. Und auf den Parkbänken küssen sich die Liebespaare.

Lothar-Günther Buchheim zeigt auf seinen Fotos die Archetypen einer Stadt, wie sie das Paris-Bild der frühen Bundesrepublik bestimmt haben. Fast alle entstanden in den Vierzigern, im Krieg und kurz danach. Buchheim kam 1943, fünfundzwanzig Jahre alt, gekleidet in der Uniform der Kriegsmarine, in eine Stadt, die für deutsche Soldaten eine Oase war: keine Verdunkelung und Bombenschäden, dafür Shows im "Lido", Chansonabende im "Moulin Rouge". "Paris war ein Synonym für Hoffnung auf Überleben", sagt Buchheim.

Der junge Mann sah die Stadt mit den Augen französischer Maler und Dichter. Es war nur eine kleine Auswahl, die er damals kannte, doch sie halfen ihm, sich zu orientieren. Für seine Fotos hatte er keine Vorbilder. Er besaß eine Contax II, Agfa-Isopan-Filme, einen Belichtungsmesser, aber kein Stativ. Manche seiner Fotos verraten den Amateur, den Anfänger; andere verblüffen durch den Blickwinkel, die Strenge des Ausschnitts. In ihrer Summe sind sie ein Ausdruck der Liebe.

Der Fotograf fraß sich mit der Kamera in die Stadt hinein. Er fotografierte das Fremde, das Neue: von Reklame bedeckte Häuserwände, kuriose Bistronamen, Zeitungskioske, Metroeingänge. Er fotografierte schwarzweiß, fasziniert vom Licht, das von der Seine aufstieg und die Stadt in einen Feuchtigkeitsschleier hüllte. Die Farbe von Paris ist ein diffuses Grau. Buchheim hielt die vielfältigen Schattierungen fest, das silbrige Flimmern des Flusses, den hellen Sandton der Parkwege, die Häuserwände mit ihren Schatten werfenden Schnörkelgittern, die ins Schwarze spielenden Kamine und Baumstämme. Es ist ein melancholisches Paris, häufig in Nieselregen oder Nebel getaucht. Auf den Straßen gibt es, abgesehen von den Fahrzeugen der deutschen Besatzer, nur wenige Fahrräder und Pferdefuhrwerke. Die Place de la Concorde ohne Autos, ein heute unvorstellbarer Anblick - Buchheim fotografierte sie mit ihren Brunnen und Fontänen bei Nacht.

Die Tristesse ist der eine Pol dieser Fotografien, die Überlebenskunst der Pariser der andere. In Scharen bevölkern sie die Parks, sitzen in Straßencafés, tanzen auf den Plätzen. Sie wirken lebhaft, unverwüstlich. Indessen, dem zweiten Blick enthüllt sich, dass die Lebensfreude gedämpft ist. Auf den Bänken am Straßenrand sitzen müde alte Leute; Lachen und Lächeln sind rar. Nur die Kinder spielen unbeschwert. auf der verkehrsfreien Place du Furstemberg mit ihrer vierarmigen Kugellaterne zeichnen sie die Kreidefelder fürs Himmel-und-Hölle-Spiel aufs Pflaster. Eine Sequenz hält eine Gruppe kleiner Schauspieler fest, die einen jungen Regisseur umringen. Der sitzt an einem Tischchen, ein Buch vor sich, gibt Einsätze. Die kleinen Mädchen mit weißen Schürzen, Schleifen im Haar, sitzen auf dem Pflaster, hören ihm zu, eine steht und singt: Sie spielen Music Hall.

Buchheim, der bald zum besessenen Sammler werden sollte, verfällt den Trödelmärkten, ihren Waren, den Händlern und Käufern. Dabei verweisen diese Fotos schmerzlich auf das, was fehlt: keine Gemüse- und Obstmärkte, keine üppigen Restauranttafeln. Lebensmittel waren rationiert, die Parks ohne Gras, weil die Pariser damit ihre Hasen auf den Balkonen fütterten. Buchheim zeigt das nicht.

Ums Dokumentieren ging es ihm nicht. Wozu? Kein Soldat wusste, ob er den Krieg überleben würde. Und daher fotografierte er vieles nicht, was uns heute interessieren würde. So sind den deutschen Besatzern nur wenige Aufnahmen gewidmet: ein Lastwagenkonvoi am Eiffelturm, eine Parade am Arc de Triomphe. Die Lastwagen von oben durchs Gitterwerk gesehen, wirken ameisenhaft. Die marschierende Kolonne im Stechschritt, Gewehr aufgepflanzt, ist ebenso wie die vorangehende Blaskapelle, der die Parade abnehmende Offizier auf seinem Ross, von der Seite gesehen. Das dämpft die Wirkung des Militärischen. Um Glanz und Gloria der Wehrmacht ging es Buchheim gewiss nicht. Am liebsten zeigt er die uniformierten Deutschen, "amalgamiert", in die Menge einbezogen, was er als eine der Stadt innewohnende Kraft erkennt. Er fand seine Landsleute martialisch und kläglich zugleich.

Das war vermutlich eine spätere Interpretation. Mit Ingrimm sah er in den folgenden Jahrzehnten "sein" Paris im Beton, in der Motorisierung, Amerikanisierung untergehen. In die Liebe begann sich Abscheu zu mengen. "Ist Gott noch Franzose?" fragte er zornig, als er die Fotos, Jahrzehnte, nachdem sie entstanden waren, vorfand und entwickelte. Im Jahr 1977 als Buch veröffentlicht, sind sie ein Abgesang auf ein Paris, das es nicht mehr gibt. Für die Ausstellung "Mein Paris - Eine Stadt im Krieg und danach", die im Buchheim Museum in Bernried am Starnberger See zu sehen ist, wurden die alten Negative neu abgezogen, die Fotos vereinheitlicht und die Bilder, die im Buch oft in Schwärze zu versinken drohten, aufgehellt. Sie wirken wie die Dokumente eines Traums.


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