Streifzüge durch eine graue Stadt
WELT am Sonntag vom 15.08.2004
"Die Zeitmaschine dreht sich rückwärts: Ich bin wieder fünfundzwanzig Jahre alt, habe meine Contax II vor der Brust, Agfa-Isopan-Filme und einen winzigen Belichtungsmesser in der Tasche - für die Matrosenhose ist er schon zu groß, sie beult sich aus. Ich fahre zum ersten Mal in Paris ein."
Mehr als 30 Jahre sind inzwischen vergangen, seit Lothar-Günther Buchheim diese Sätze geschrieben hat. Kurz nachdem er in einem Holzkoffer zwischen U-Boot-Filmen eine Schachtel mit der schlichten Aufschrift "Paris" entdeckt hatte. Inhalt: Filme, geschossen vom Kriegsreporter Buchheim in der von den Deutschen besetzten, dann von den Amerikanern befreiten Stadt. Triste Bilder, grau in grau. "Paris und Grau", schreibt Buchheim, "das sind für mich Synonyme."
Zu grau selbst für den Schwarz-Weiß-Zeitgeschmack, das weiß Buchheim, weswegen er die Bilder auch jahrzehntelang niemandem gezeigt hat. "Die Kameraden von ehedem hätten wohl nur ein Kopfschütteln für meine tristen Straßen gehabt . . . Ich hätte Paraden, Glanz und Glorie der Okkupanten fotografieren müssen."
1977 traut Buchheim sich dann doch. Berauscht von seiner Entdeckung, der Zeitreise in seine Jugend, lässt der Autor ("Das Boot"), Sammler und Maler die Fotos im Piper-Verlag veröffentlichen ("Mein Paris, eine Stadt vor dreißig Jahren"). Henry Miller (1891-1980), mit Buchheim befreundet und in den 30er-Jahren im Kreise der "American Exiles" selbst in Paris ansässig, schreibt ihm: "Dein wunderbares Buch . . . scheint wie ein Labor der Liebe . . . die Fotos - welch zärtliche Erinnerungen sie hervorrufen!" Doch die Bilder geraten wieder in Vergessenheit.
Jetzt geht Lothar-Günther Buchheim, inzwischen 86, mit Publikum erneut auf Zeitreise und widmet seinen Paris-Bildern eine Sonderausstellung im "Museum der Phantasie" in Bernried (bis 31. Oktober). Gezeigt werden, erstmals überhaupt in einer Ausstellung, knapp 100 Bilder, ein Querschnitt der Sammlung, begleitet von Buchheims Texten. "Wir wollen seine Doppelbegabung als Fotograf und Autor zeigen", sagt Clelia Segieth, Buchheims Kuratorin. Wie die Texte überhaupt wichtig sind, um Fotos, Zeit, Umstände und vor allem die Gefühlslage dessen, der sie machte, zu verstehen. Kraftvoll hingeworfene Gedanken, mal wütende, mal wehmütige Erinnerungen eines Mannes, der beim Sichten des Zelluloid-Schatzes mit sich "selbst durcheinander" gerät und dieses Gefühl mit den Worten "Ich bin high" beschreibt (nachzulesen in "Paris-Paris", 9,90 Euro, der zur Ausstellung aufgelegten Taschenbuchausgabe des Piper-Bildbandes). Es sind, wie gesagt, triste Bilder. Von Menschen in der Großstadt, gezeichnet vom Krieg und dem Willen, zu überleben. Kein Lächeln, keine Zwiesprache erreicht den Fotografen. Selbst die deutschen Besatzer, wie Touristen am Fuße des Eiffelturms abgelichtet, umweht ein Hauch Melancholie - bonjour tristesse.
Das Bestechende an Buchheims Bildern ist ihre Authentizität, die Zufälligkeit, in der sie entstanden sind. Nichts ist gestellt, wie etwa bei Robert Doisneaus berühmtem Bild "Der Kuss" eines Pariser Liebespaares aus den 50ern, das man jahrelang für einen genialen Schnappschuss hielt. Buchheim ging mit der natürlichen Neugier eines Kindes ans Werk. "Kunstambitionen hegte ich bestimmt nicht. Fotoästethik? Der Begriff war noch nicht üblich."
Soldaten - und auch sie kommen nur spärlich vor - sind im Übrigen das Einzige, was den Betrachter daran erinnert, wann und warum es zu diesen Aufnahmen kam. Buchheim ist vielmehr der Beobachter ganz alltäglicher Straßenszenen. Keine Zerstörung, keine Gewalt. Als negierten diese Stadt und ihre Bewohner das, was ganz Europa, ja die Welt, in jenen Tagen in Brand steckte.
Buchheim selbst muss das gespürt haben, er lässt sich anstecken und streift die Uniform bei jeder sich bietenden Gelegenheit ab: "Was für ein Hochgefühl war der Klamottenwechsel in Paris. Kaum im Hotel angekommen, verwandelte ich mich auch schon in einen Zivilisten. Sich wie ein normaler Mensch bewegen, Arme baumeln lassen, aus der Hüfte laufen . . ."
Und Buchheim lief viel auf seinen Streifzügen. Vor allem ans Wasser. "Wann immer ich in Paris ankam, wo immer ich in Paris wohnte - meine Füße fanden wie von allein den Weg zur Seine." Besonders die Angler, seine "ständigen Statisten", haben es ihm angetan. Ein immer wiederkehrendes Motiv, wie sie, Zigarette im Mundwinkel, am Ufer geduldig auf das Zucken der Rute warten und "doch nie einen mehr als handspannengroßen Fisch aus dem trüben Wasser ziehen".
Doch Paris, das ist mehr für den jungen Buchheim. Das sind hundert Städte in einer, von der "keine zwei Menschen das gleiche Bild haben". Buchheim zeigt uns das Paris der Kohlenhändler, Artisten, Maler, Huren, Gauner, Bistrobesitzer. Er zeigt uns spielende Kinder in den Tuilerien und das Kleinbürgertum beim Sonntagsspaziergang. Und man begreift, dass aus hundert Städten leicht zweihundert Städte hätten werden können, wenn Buchheim weiter fotografiert hätte.
Was ist davon geblieben, "mein Paris - aus und vorbei?" Nicht viel, resümiert Buchheim, wenngleich er feststellt, dass sich wenigstens um Pigalle und Place Blanche mit ihren "traurigsten Striptease-Kellern der Welt" nicht alles verändert habe: "Gott sei Dank: Die Sünde erweist sich als resistent!" Dennoch bleibt Buchheim zwischen "Abscheu, Zuneigung, Liebe hin- und hergerissen", und die Antwort auf die 1977 gestellte Frage "Sehnsucht zurück?" dürfte 2004 nicht anders ausfallen als damals: "Ja, immer wieder."
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