Fränzi, Modell und Ikone der „Brücke“-Künstler

Kabinettausstellung im Buchheim Museum

April bis August 2009

Kein anderes Modell der "Brücke" hat die Forschung so intensiv beschäftigt wie das junge Mädchen Fränzi, das zum "Markenzeichen" und zur Ikone der Künstlergemeinschaft, ja zum "Insignum des "Brücke"-Stils"(Volkmar Billig 2001) avancierte. Hat man sich einmal ihre Erscheinungsform, die schlanke Gestalt mit dem dreieckig geschnittenen Gesicht und den langen Haaren, den von Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner geschaffenen Fränzi-Typus, eingeprägt, begegnet man Fränzi - vorwiegend im Zeitraum von 1910 bis 1911 - auf einer Vielzahl von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen und Druckgraphiken, auch wenn ihr Name nicht im Bildtitel erwähnt wird. Allein im Katalog der Dresdener "Brücke"- Ausstellung im Jahre 2001 figuriert sie auf rund fünfundzwanzig Arbeiten.

In der Sammlung Buchheim befindet sich ein Dutzend Blätter von Heckel und Kirchner, auf denen Fränzi dargestellt ist, darunter Heckels berühmter Holzschnitt "Fränzi liegend" (1910), der als eine der Inkunabeln des reifen, also flächen- und konturbetonten "Brücke"-Stils gilt. Den Anstoß, diese Arbeiten und eine Gruppe von Moritzburger Motiven in einer Kabinettausstellung zusammenzuführen, gab die Entdeckung einer Tuschzeichnung von Erich Heckel auf der Rückseite einer aquarellierten Kreidezeichnung aus dem Jahr 1911.

Bis Klaus Albers und Gerd Presler 1999 nachweisen konnten, dass Fränzi, die im richtigen Leben Lina Franziska Fehrmann (1900-1950) hieß, das fünfzehnte Kind einer Putzmacherin und eines Schlossers war, galt sie als Artistenkind. Als Heckel oder Kirchner sie Ende 1909 oder Anfang 1910 entdeckten, war Fränzi fast neun Jahre alt. Aufgrund des namentlichen Auftauchens einer Marzella in der Korrespondenz von Heckel und Kirchner sowie Pechsteins Erinnerung an zwei Schwestern, existiert die Ansicht, dass auch eine Schwester von Fränzi, die ebenfalls halbwüchsige Marzella, den Malern als Modell diente. Andere Forscher (Volkmar Billig 1995) betrachten Fränzi und Marzella als eine Person, zumal Kirchner sein mit "Marzella" betiteltes Gemälde (heute im Moderna Museet, Stockholm), selbst als "Fränzibild" bezeichnete (Brief von Kirchner an Carl Hagemann vom 7.3.1931).

Unsere, in einem Zug hingeschriebene Tuschzeichnung kann frühestens 1909, möglicherweise auch 1910 entstanden sein. Sowohl die Signatur Heckels, wie seine Datierung "08" stammen aus späten Jahren, sind also nachträglich gesetzt worden, wie auch die Datierung "08" unseres Aquarells "Sitzende Fränzi", das bislang auf 1909 datiert wird.

Interessant ist unsere Tuschzeichnung auch im Hinblick auf ein weiteres ausgestelltes Blatt: die Radierung "Liegendes Kind" (1910). Die Dargestellte trägt unverkennbar Fränzis Züge, wenngleich Körperhaltung und Umgebung sich unterscheiden. Dass sich dieses Blatt nahezu spiegelbildlich auf das zerstörte Gemälde "Weißes Mädchen" (1910) bezieht (Annemarie Dube-Heynig) ist aufschlussreich, weil dort, ähnlich wie auf unserer Zeichnung, das Mädchen mit einer sehr viel kleineren, stehenden Figur in Beziehung gesetzt wird. Dort ist es möglicherweise eine Skulptur, die sich mit dem Tierfries im Hintergrund, einem Detail der Heckel?schen Atelierausstattung, zu einem exotisch - paradiesischen Ambiente ergänzt, in dem Fränzis Nacktheit als natürlicher (Ur)-Zustand, und sie selbst als weißhäutiges "wildes Mädchen", erscheint. Die mit wenigen Strichen erfasste Gestalt im Hintergrund unserer Zeichnung, welcher etwas Zögerliches und Abwartendes eignet, könnte auf einen Jungen anspielen, der mit Fränzi befreundet war und sich öfter in den "Brücke"- Ateliers aufhielt.

Betrachtet man Heckels Aktdarstellungen von Frauen aus demselben Jahr, wird deutlich, dass Fränzi stilbildende Funktion zukam. Denn während die runden Formen erwachsener weiblicher Modelle dazu verleiteten, Körperpartien plastisch zu modellieren und auf fließende Linien zurückzugreifen, vereinfachte die knabenhafte Gestalt von Fränzi die beabsichtigte Projektion in die Fläche und die Ausbildung einer kantigen Kontur, ja provozierte und radikalisierte diesen Prozess, der von außereuropäischer Kunst angeregt und in Gang gebracht worden war. Wie wichtig Fränzi für die Entwicklung des reifen, erst 1910 endgültig ausgeprägten "Brücke"-Stils war, belegt auch ihre Präsenz auf Werken der gewichtigen "Brücke"-Ausstellung in der Dresdner Galerie Arnold im Jahr 1910, die bezeichnenderweise parallel zu Arbeiten von Gauguin gezeigt wurde. Um den flächen- und konturbetonten Stil ihrer Gemälde zu unterstreichen, verzichteten die "Brücke"- Maler auf fotografische Bildreproduktionen und schnitten ihre oder die Bilder von Kollegen in Holz. Kirchner schuf nicht nur das Plakat und das Titelbild des Umschlags, auf dem Fränzi zu sehen ist. Durch den Holzschnitt mit dem Motiv einer rudernden Samoanerin stellte er den Bezug zur spektakulären Samoaner-Völkerschau im Dresdner Zoo-Gelände her, die noch zu Beginn der "Brücke"-Ausstellung lief. Und er "verlinkte" die "Brücke" durch sein Plakat für die Gauguin-Ausstellung mit Gauguins Südseebildern.

"Fränzi" ist Programm und lässt leitmotivisch anklingen, worum es den "Brücke"-Malern ging: nämlich um das Ideal einer jungen, von althergebrachten akademischen Regeln und vorgegebenen Darstellungsmodi befreiten Kunst, die unmittelbar mit dem Leben verbunden sein und aus ihm heraus erwachsen sollte. "Fränzi" war weit mehr als ein Modell. Sie war eine Ikone, die insbesondere für Heckel und Kirchner die geistige Erneuerung der Kunst und damit verbunden, die Reform des Lebens im Sinne eines zurück zur Natur und zum Natürlichen, verkörperte. Das Arbeiterkind, das sich offenbar im Atelier wie an den Moritzburger Teichen im Kreise der Künstler ohne Scheu bewegte, konnte, wie kein anderes Modell, das Bild eines von Zivilisation und Erziehungsmaßnahmen verschonten "Naturmenschen"erfüllen. Damit rückte Fränzi in die Nähe der Vorstellungen, die sich die "Brücke"-Maler vom Leben und den Menschen der "Naturvölker" machten. Mit ihren Zeichnungen (5. Skizzenbuch von E.L.Kirchner, Kirchner Museum, Davos) bot Fränzi zudem ein Beispiel für eine rohe, ungeschulte, unmittelbare, bildnerische Äußerung, die der Idee der "Brücke" von einer originären Bildaussage nahe kam. (Erinnert sei in diesem Kontext auch an die Bedeutung der Kinderzeichnung im Kreise der "Blauen Reiter".)

Das Leben in der freien Natur suchten Heckel und Kirchner in den Sommern 1909 bis 1911 mit ihren Modellen an den Moritzburger Teichen nahe Dresden zu erproben und studierten gleichzeitig den nackten Menschen in seinen natürlichen Bewegungen. 1910 stieß Pechstein, 1911 vermutlich Otto Mueller hinzu. Als zentrales Thema bildete sich das Motiv "Badende" heraus. Vor Ort entstanden vermutlich vorwiegend Skizzen, die dann im Atelier in Gemälde und Druckgraphiken umgesetzt wurden. Auch unser Gemälde "Waldteich" (1910), zu dem eine Studie in Öl existiert, scheint das Badeleben und die drei sich waschenden Frauen im Vordergrund aus der Perspektive des reflektierenden Nacherlebens widerzuspiegeln, wofür der systematische Bildaufbau und die verfestigten Formen sprechen. Auf vielen Moritzburger Arbeiten ist "Fränzi" zu sehen. So etwa auf Heckels Lithographie "Akte in Waldlichtung" von 1910, wo sie mit staksigen Bewegungen einer Hängematte entsteigt. Ihre schmale Gestalt mit den eckigen Konturen kontrastiert mit den runden Umrissen der Rückenansicht von Doris Große, genannt "Dodo", seinerzeit Kirchners Modell und Geliebte. Beide - Dodo und Fränzi - hat Heckel auf einem Aquarell festgehalten: Es zeigt sie innig vereint, wohl im Eingangsraum von Kirchners Atelier in der Berliner Straße 80. Blaue Kleider verwischen die körperlichen Unterschiede zwischen der erwachsenen Frau und dem jungen Mädchen.

Die ausgestellten Arbeiten von Kirchner, auf denen Fränzi zu sehen ist, sind alle im Atelier entstanden. Unmittelbar genannt wird Fränzi allerdings nur in den Titeln zweier Werke: "Fränzi mit Bogen" (1910) und "Fränzi mit Puppe" aus dem gleichen  Jahr. Doch lässt die im selben Duktus gehaltene Tuschfederzeichnung "Kauerndes Mädchen" vermuten, dass es sich auch hier um eine Studie von Fränzi handelt. Sie kniet auf dem rechten Bein und scheint sich etwas auf dem Boden zurechtzulegen. Das Motiv des Bogenschießens verweist aufs Freie, denn die "Brücke"-Künstler und ihre Modelle übten sich gerne in Disziplinen wie Bogenschießen und Bumerangwerfen, die ihnen von den Völkerschauen und außereuropäischer Kunst geläufig waren. Die Liege mit dem großen Kissen spricht aber für eine Atelierstudie. Auf der großformatigen, farbigen Kreidezeichnung "Drei Modelle im Wohnraum" (um 1910) steht  "Fränzi" am linken Bildrand. Das "Mädchen in blauem Kleid" (1910), das jene Muschelkette trägt, mit der Heckel und Kirchner gerne ihre Modelle schmückten, um ihnen eine exotische Anmutung zu verleihen, scheint ebenfalls Fränzi zu sein. Womöglich, und dies unterstreicht die Umrisszeichnung einer tanzenden "primitiven" Figur, die wohl ein Motiv der Atelierausstattung wiedergibt, ist Fränzi von Kirchner beim Tanzen festgehalten worden. Hier und auch in den anderen Arbeiten zeigt sich Kirchners Vorliebe für bewegte Motive. Der Tanz, ganz gleich ob Vorführungen in Cabarets oder Varietés oder rituelle Tänze, die im Rahmen der Völkerschauen vorgeführt wurden, faszinierte Kirchner und galt ihm als Ausdruck potenzierter Dynamik und Lebensintensität. 1920 schrieb er: "Ich bin am Bahnhof geboren. Das erste, was ich im Leben sah, waren die fahrenden Lokomotiven und Züge, sie zeichnete ich, als ich drei Jahre alt war. Vielleicht kommt es daher, dass mich besonders die Beobachtung der Bewegung zum Schaffen anregt. Aus ihr kommt mir das gesteigerte Lebensgefühl, das der Ursprung der künstlerischen Werke ist."  Fränzis Lebendigkeit und ihre raschen Bewegungsabläufe, extremster Gegensatz zum akademischen Aktstudium, bei dem nach antiken Gipsabgüssen oder nach Modellen gezeichnet wurde, die stundenlang in derselben Position verharrten, waren für Kirchner die ideale Herausforderung.

Zwei ausgestellte Arbeiten von Heckel und Kirchner aus dem Jahr 1907 zeigen, dass Kirchner und Heckel schon vor Fränzi junge Mädchen darstellten, wiewohl in der europäischen Kunst der Jahrhundertwende, insbesondere im Jugendstil, Kinder und Jugendliche als Personifikationen des Aufbruchs und der Reform von Kunst und Leben fungierten.

Dr. Clelia Segieth
Kuratorin des Buchheim Museum
im April 2009


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